Dienstag, 24. September 2013
Magyarmecske!
Hallo meine Lieben,
ich bitte vielmals um Nachsehen, dafür, dass ich euch habe so lange warten lassen, aber die letzten Tage ist einfach sooo viel passiert, dass ich nicht zum Schreiben gekommen bin.
Das möchte ich jetzt nachholen.

Also Montag-Ankunft in Magyarmecske: nach ca. vierstündigem Geholper über ungarische Schlaglöcher, Pardon, Straßen habe ich das erste Mal mein Zuhause für die nächsten Monate erblickt. Magyarmecske ist eine kleine Ortschaft mitten in der Pampa. Das Ungewöhnlichste war, dass alle Häuser links und rechts der Hauptstraße stehen, die durch das Dorf führt. Es gibt keine Abzweigungen oder kleine Sträßchen innerhalb des Dorfes, alles steht entlang der großen, kerzengeraden Straße. Unser Haus ist ziemlich neu und Bad und Küche entsprechen durchaus deutschem Standard. Das Einzige was ich ein bisschen vermisse, sind Möbel. Die Zimmer sind ziemlich groß, aber eben so gut wie leer. Ich habe ein Bett und einen wirklich sehr, sehr kleinen Schrank. Das wars. Ich hoffe, wir können in nächster Zeit vielleicht wenigstens ein, zwei Tische auftreiben und wenn uns das Glück hold ist, auch noch ein Sofa.

Unser Empfangskomitee (Silvie, die Küchenchefin der Schulmensa, samt Gatte) hat uns mit Obst und Gemüse aus dem Garten und selbstgebranntem Pálinka willkommen geheißen. Letzteren mussten wir natürlich auch gleich verköstigen, wobei ich mir wirklich nicht sicher bin, ob das Zeug überhaupt zum Verzehr geeignet ist, oder man es doch eher nur als Desinfektionsmittel benutzen sollte. Aber die Liebenswürdigkeit der Geste an sich, hat mich dann doch dazu bewogen, meine Leber mit knapp 60%igem Alkohol zu vergiften. Am nächsten Tag stand zunächst die Besichtigung der örtlichen Grundschule auf dem Plan. Die Schule ist ziemlich neu und sehr modern eingerichtet. Alles in allem macht sie wirklich einen schönen Eindruck und es gibt auch eine Deutschlehrerin an der Schule, falls ich mal Sehnsucht nach ein paar vertrauten Klängen haben sollte. Ich werde allerdings nicht direkt in der Schule arbeiten, sondern in einer sog. „tánuda“, einer Art Nachmittagsbetreuung, im Nachbarort Gilvánfa. Diese Ortschaft ist eine reine Roma-Siedlung und ist einer soziologischen Studie der Budapester Universität nach, offiziell das ärmste Dorf Ungarns. Warum es diesen Titel trägt, habe ich in den letzten Tagen gesehen. Zunächst einmal sind die Häuser zum Teil recht heruntergekommen, von den Straßen gar nicht zu sprechen. Viel deutlicher aber, ist mir die Armut bewusst geworden, als ich ein paar der Kinder kennengelernt habe. Die Kinder und Jugendlichen können Montag bis Freitag von 14.00 - 19.00 Uhr in die tánuda kommen und bekommen dort Hilfe mit den Hausaufgaben, oder bei Bewerbungsschreiben oder sonstigen Problemen. Außerdem wird ihnen hier eine Art Freizeitprogramm geboten. Basteln, Mahlen, Spielen, Musik und Gesang und auch Computer mit Internetzugang.

Meine Aufgabe dort wurde mit in etwa so umschrieben: ich soll für die Kinder eine Art „Mittelklasse-Mensch“ Vorbild sein, damit sie einfach mal andere Lebensentwürfe kennenlernen. Viele von den Familien sind in der dritten Generation arbeitslos und die Mitarbeiter der tánuda wollen verhindern, dass die Kinder das als Normalzustand betrachten. Außerdem soll ich für sie eine Art Brücke sein zu der Welt außerhalb von Gilvánfa und Magyarmecske. Viele kommen bis zum Ende der Grundschule (die in Ungarn 8 Jahre dauert) nicht aus dem Dorf raus und haben dementsprechend große Probleme, wenn sie auf weiterführende Schulen in die 40 km entfernte Großstadt Pécs gehen wollen. Oder wie es mein „Chef“( die Atmosphäre ist ziemlich familiär, deshalb die Anführungszeichen) ausgedrückt hat: Ein Kind, das heutzutage mit 13 noch nicht weiß, was Mc Donalds ist, ist per se ein Außenseiter. Dementsprechend gering ist die Anzahl der Kinder, die überhaupt auf weiterführende Schulen gehen und noch geringer die Zahl derer, die sie auch abschließen. Die tánuda versucht an allen Ecken und Enden ein bisschen zu helfen; kümmert sich um den Kontakt zu weiterführenden Schulen, wenn die Eltern es nicht tun, gibt Nachhilfe, wenn erforderlich etc.

Die ersten Tage habe ich erst mal ganz viel zugeschaut, immer bewaffnet mit meinem Wörterbuch und meinem Vokabelheft oder hab die Kinder mit nonverbalen Aktivitäten, wie fangen spielen o.ä. auf Trab gehalten. Die Kinder, insbesondere die jüngeren sind sehr offen und anhänglich. Ich habe manchmal das Gefühl, dass sie sich über jedes Quäntchen Aufmerksamkeit freuen. Schon am ersten Tag hatte ich abends einen ganzen Fanclub um mich gescharrt, von Kindern, die mich umarmt haben und mich gar nicht mehr gehen lassen wollten. Am meistens mögen sie, glaube ich, meine lustige Aussprache und mein verständnisloses Gesicht, das sehr oft zutage tritt, wenn sie mit mir reden. Natürlich ist nicht immer alles eitel Sonnenschein aber das kann man sich auch denken, wenn man weiß, wo die Kinder herkommen.

Wer sich jetzt vielleicht fragt, was ich denn die übrige Zeit so getrieben habe, wenn ich täglich nur 5 h in der tánuda bin:
Die ersten zwei Tage haben ich und meine Mitbewohnerin damit verbracht die Wohnung zu putzen und nach Pécs zu fahren um groß einzukaufen. Wischmopp, Bügeleisen, Thermoskanne… Ich weiß, dass vor uns schon drei andere Freiwillige in der Wohnung gewohnt haben, was ich nicht weiß, ist WIE? Entweder haben die vom Besteck bis hin zum Waschmittel alles eingepackt, als sie gegangen sind, oder sie haben es irgendwie vermieden diese Dinge zu benutzen.
Die Tage darauf standen Behördengänge und sonstige Notwendigkeiten auf dem Plan, bei denen ich grob geschätzt 200 Formulare unterschreiben musste (die Deutschen sind NICHT Weltmeister darin, alles zu verbürokratisieren! Ich stelle die gewagte These auf, dass man ehemalige Sowjet-Staaten an zwei Dingen erkennen kann: hässliche Betonklötze und eine unerbittliche Vorliebe für Stempel und Unterschriften).

So verflog die Zeit und schon war es Sonntag. Dieser hielt für uns einige Höhepunkte und leider auch einen Tiefpunkt bereit.
Meine Mentorin Judit (auch eine Mitarbeiterin der tánuda), wohnhaft in Pécs hat uns zu einer Wanderung eingeladen, um den Hügel, zu dessen Füßen Pécs liegt zu erkunden. Berg will ich es nicht nennen, da er gerade mal 600 m hoch ist, aber wenn man die hiesige Topographie mit einem Pfannkuchen vergleicht, ist er sozusagen die Kugel Vanilleeis darauf.
Auf dem Gipfel kann man die Ruinen, von einem mittelalterlichen Kloster und wunderschöne Felsformationen und Höhlen bestaunen (Bilder werden mit der üblichen Verspätung nachgereicht).
Im Anschluss daran wurden wir mit selbstgemachten Langos (ungarisches Nationalgericht) verwöhnt. Es handelt sich dabei um (überraschenderweise) frittierte Teigfladen mit Sauerrahm, Knoblauch und Käse. Wirklich sehr lecker und bislang das erste vegetarische Gericht, das ich kennen gelernt habe.

Das waren die Höhepunkte, der Tiefpunkt erwartete uns zuhause. Unsere Wohnung war von einer seltsamen Spezies von Einbrechern heimgesucht worden. Man hat uns sämtliche Süßigkeiten, Wurst und Käse geklaut. Meinen Laptop und meine herumliegende Geldbörse (inklusive Inhalt) wurden allerdings verschont. Wir haben scharfsinnig kombiniert, dass ein paar Kinder wohl die Gunst der Stunde genutzt haben und durch das Badezimmerfenster eingestiegen sind. Das Fenster ist in etwa 2,30 m Höhe angebracht und nur 30 cm hoch, deshalb muss uns irgendwie entgangen sein, dass es offen war (Anm. d. Autorin: ICH wars nicht!). Inzwischen kann ich schon drüber schmunzeln, aber gestern Abend war es doch ein komisches Gefühl, zu wissen, dass jemand in meinem Zimmer war und sogar die Tüte Gummibärchen in meinem Koffer gefunden hat. Wer weiß, wo der sonst noch überall gesucht hat.

Die neue Woche habe ich mit einer kalten Dusche begonnen. Wer mich kennt, weiß, dass ich nichts mehr liebe als ausgedehnte Duschen mit eiskaltem Wasser. Es belebt und stärkt den Kreislauf. …So und jetzt die ehrliche Version: Der Boiler streikt und ich habe ihn dafür in allen mir bekannten Sprachen verflucht. Leider fühlt sich von unseren Ansprechpartnern keiner so richtig zuständig für dieses Problem. Ich schätze, dass unser Wasserverbrauch in den nächsten Tagen rapide absinken wird.

In der tánuda erwartete mich dann die nächste Überraschung. Allerdings eine weitaus schönere. Weil mich Kinder irgendwie zu mögen scheinen, wurde mir angeboten, zwei Mal die Woche im Kindergarten mit den Kids eine Art „Spiel-, Sing- und Tanzstunde“ auf Englisch zu veranstalten. Das Schöne daran ist, dass ich dabei schon eigene Ideen umsetzten kann, ohne fließend ungarisch sprechen zu können. Damit ich als Nicht-Pädagogin allerdings nicht ganz ins kalte Wasser geschmissen werde (tada Wortspiel ;-), werde ich nächste Woche in einem englischen Kindergarten in Pécs hospitieren. Frühkindliche Sprachförderung im Crashkurs sozusagen. Ich habe natürlich auch ein paar Zweifel, gerade weil ich diesbezüglich noch gar keine Erfahrung habe. Aber andererseits sehe ich ja, wie wenig Englisch die Jugendlichen hier selbst nach 5 bis 8 Jahren Unterricht können. Selbst wenn ich total versage, wird das die Sprachkompetenz der Kinder also kaum verschlechtern können.

So ich glaube, damit seid ihr jetzt wieder auf dem aktuellen Stand. Der Beitrag ist doch länger geworden, als geplant und ich hoffe, ihr verzeiht mir gelegentliche Ausschweifungen. Es ist mir immer schon schwer gefallen, mich kurz zu fassen, besonders wenn es so vieles gibt, was ich gerne erzählen möchte.

Vielen Dank außerdem für die Grüße und Kommentare. Ich freue mich immer über Rückmeldungen! :-)
Eine angenehme Nachtruhe und die liebsten Grüße
Sarah